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Anje Heinz

Adler Tom

Das ist eine Geschichte, so wahr, so unwahr. Es ist die Geschichte von einem Mädchen und einem Adler. Eine Liebe, zwischen beiden, die so tief ist wie der Ozean an seiner tiefsten Stelle und so unendlich wie das Weltall, so traurig und dunkel wie die Nacht, wenn alle Sterne und der Mond schlafen und so heiter, hell und bunt wie ein großer, farbenprächtiger Luftballonstrauß am sonnendurchfluteten Morgen.

Diese Geschichte begann vor 7 Jahren. Ein Mädchen wurde geboren. Elli. Sie ähnelte Schneewittchen: dunkles Haar, blasse Haut und dennoch ein Wesen voller Zauber, Freundlichkeit und Stärke. Nur manchmal musste sie etwas gezähmt werden, wenn ihr Temperament wie ein wilder Hengst mit ihr durchging. Kaum, dass sie auf dieser Welt war, traf sie auf ihren Onkel Tom. Tom war voller Großherzigkeit, Güte und Liebe. Er versprach, sie zu schützen und über ihr zu wachen, ein Leben lang. Ganz egal, wo ihr Weg sie hinführen wird, er wird da sein, er wird sie durch die dunklen Nächte tragen, ihre Ängste nehmen und mit ihr lachen, bei helllichtem Tag sowie bei Mondschein. Stark, stolz und unabhängig sollte sie werden. Unsinn machen, lachen und gute Freunde finden. Sie sollte fliegen in die Welt hinaus, Wunder erleben, Menschen und Kulturen erkunden und nach Hause kommen, mit Glückseligkeit und unvergessenen Erlebnissen im Gepäck. Ja, Tom hatte geholfen, ihr Gepäck im Koffer des Lebens zu vermehren. Wichtige Dinge, wie Ehrlichkeit, Vertrauen und Neugier lehrte er ihr. Er hat somit auch die richtigen Inhalte hineingepackt, in ihren Koffer.

Gemeinsam das Leben leben und lieben. Gemeinsam durch die Lüfte fliegen. Das war der Plan. Du musst wissen: Tom war Pilot. Er flog durch die Welt und brachte Elli von jeder Reise etwas Schönes mit: einen Baseball aus Washington D.C., ein Holz-Känguru aus Australien, welches lustig mit dem Kopf und Bauch wackelte oder das Adler-Kuscheltier aus Kanada. Dieses liebte sie besonders. Er war so knuffig und flauschig. Es verging keine Nacht, wo sie nicht mit dem Adler im Arm einschlief, keine Autofahrt und kein Kinobesuch ohne Kuschel-Adler. Als sie in die Schule kam und schreiben lernte, bastelte sie dem Adler ein Halstuch. Tom stand in großen roten Buchstaben drauf. Adler Tom wurde getauft mit dem ersten warmen Sommerregen des Jahres. Sie lud all ihre Kuscheltiere zu der Taufe ein, hatte Kuchen im Sandkasten gebacken und die Sonne mitsamt allen Spatzen aus dem Dorf eingeladen. Es war ein schönes Fest. Mit bunten Luftballons, lustiger Musik und Himbeerbrause. Sie wünschte Adler Tom Freiheit, über die Wolken zu fliegen und eine Liebe zu ihr, die nie vergehen sollte.

Doch weißt du, der Plan ging nicht auf. Onkel Tom wachte eines Tages nicht mehr auf. Gemein. Oder? Das war ein Moment, wo die Welt still stehen blieb. Wo kein Wind mehr hauchte, wo keine Sonne mehr schien, kein Spatz mehr zwitscherte, kein Adler am Himmel flog. Für einen Augenblick war Stille. Für einen Wimpernschlag hielt die Welt den Atem an.

In dem Moment, in dem sie Onkel Tom zu Grabe trugen, schaute Elli in den Himmel. Ein Adler zog hoch oben in der Luft seine Kreise. Der Ruf des Adlers war weit zu hören. Seine Schwingen waren weit zu sehen. Anmutig flog er. Es war, als er ob er sagen wolle: Schau, ich bin doch da und werde dich weiter begleiten. Das musste Adler Tom sein.

Aber weißt du? So viele Nächte hat Elli, das starke Mädchen, gewartet, gehofft und geweint. Tom wollte doch wiederkommen und ihr etwas Schönes mitbringen. Es ist so schwer, der Elli das zu erklären. Dass der Tom nicht mehr da ist, nicht mehr durch die Lüfte fliegt, sie nicht mehr durchkitzelt, nicht mehr anruft. Hat man ja selbst keine Erklärung dafür.

Jeden Abend schläft sie mit Adler Tom an meiner Seite ein. Jeden Abend berichtet sie ihm von ihrem Tag. Wenn sie rodelt mit Hanni, ihrer besten Freundin, im weißen, funkelnden Schnee und die lustigsten Schneemänner baut, wenn sie im türkisen Meer von Ägypten schnorchelt und freudestrahlend auftaucht, weil ein Nemo-Fisch ihr fast die Nase kitzelte oder wenn sie daheim mit ihrem Lieblingspony Emma durch die grünen Wiesen trabt… Weißt du, wer immer über ihr schwebt? Ein Adler. Das muss Adler Tom sein. Hat er doch zu ihrer Geburt versprochen, immer für sie da zu sein und sie zu begleiten. Und wenn sie Rat sucht oder traurig ist…. oder wenn sie überschäumt vor Glück, dann schaut sie in den Himmel. Zu Adler Tom. Sie erzählt von Ihrem Tag. Sie gluckst vor Lachen, erzählt ihm die lustigsten Witze, schimpft mit ihm, wenn was nicht gut lief, fragt ihn, was er erlebt hat und freut sich auf die Nacht mit ihm im Arm. Tom ist nicht mehr da, doch in ihrer Phantasie schon. Sie glaubt ganz fest daran, dass er als Adler Tom in ihrer Nähe ist. Und so ist sie glücklich, weil sie nicht allein ist.

Das ist eine Liebe, die nie vergeht. Die so stark ist, weil Adler Tom immer über ihr wachen wird. Er wird ihr zeigen: Du bist nicht allein. Er wird schützend seine Flügel über ihr ausbreiten. Stolz und anmutig wird er seine Runden in der Freiheit drehen und ihr den richtigen Weg zeigen. Tom wird immer lebendig bleiben, weil doch die Liebe bleibt.

Eine Liebe, so wahr, unendlich und stark. Nichts wird sie trennen. Adler Tom und Elli, das starke Mädchen.

Text: Seelenberührt
Anje Heinz – Reden & Moderation
anje.heinz.de
Illustration: Lydia Zillmann