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Anje Heinz

Vive l’amour

Vive l’amour et Jaques, mon grand amour vrai

Berlin-Wedding 1952
Nach der Kapitulation der Wehrmacht und Beendigung des Zweiten Weltkrieges wurde gemäß der Vereinbarungen von Jalta Groß-Berlin in vier Sektoren aufgeteilt.

Und so gab es in Berlin einen französischen Sektor in den West-Berliner Bezirken Reinickendorf und Wedding neben den Sektoren der USA, Großbritanniens und der Sowjetunion.

Maria lebte in Wedding, war 19 Jahre alt. Sie war eine wunderschöne Erscheinung, hatte ein fröhlich, unbeschwertes Wesen, lachte gern und liebte das Leben – trotz aller Entbehrungen durch den Krieg. Sie war in einer guten Stellung als Sekretärin. Und des Nachts, wenn alle schliefen, nähte sie sich die schönsten Kleider. Darüber vergaß sie alles und konnte ihren Gedanken nachhängen.

Eines Tages lernte sie einen jungen Mann kennen. Er war groß, stattlich, hatte ein breites Kreuz und das braune, volle Haar war gelockt. Er war unglaublich. Er strahlte über allen anderen Männern, hatte ein unglaubliches Charisma und versprühte einen Charme. Er war eine Mischung aus Gary Grant und Tarzan. Sie liebte seinen Stil, seine lässige Schiebermütze, die Weste, kombiniert mit einer Jeans und seine Art zu gehen, eher zu tänzeln. Es war Jaques, er kam aus der Normandie nach dem Krieg in die Besatzungszone und lebte und arbeitete seit einiger Zeit hier.

Sie lernten sich kennen. In Wedding. Beim Tanz. Maria trug ein schönes, rotes Kleid und stach so aus der Meute hervor. Jaques forderte sie zum Tanz auf. Sie liebten beide das Tanzen. Sie tranken Wein und ließen sich nicht mehr los. Die Nacht dauerte gefühlt ewig. Eine nicht mehr enden wollende Zeit. Sie lachten, vergaßen den Alltag und sprachen über alles, was sie bewegte.

Sie verloren sich ineinander. Keiner fragte nach dem Morgen. Aus Angst vor der Antwort. Sie fanden den Menschen, den sie sich immer wünschten, den sie nie suchten, aber dessen Hand sie nie wirklich wieder loslassen, dessen Tränen sie trocknen, dessen Lachen sie hören und dessen süße Küsse sie schmecken wollten.

Sie verbrachten die Zeit ihres Lebens miteinander. Abends, nach der Arbeit, trafen sie sich und morgens, vor der Arbeit, gingen sie ihrer Wege. Und dazwischen blieb die Zeit stehen. Dazwischen waren nur sie. Sie lachten, küssten, redeten bis zum Morgengrauen. Bis die Vögel in schwarzen Scharen über die Stadt zogen und die Nacht mitnahmen. Bis die Sonne den Tag brachte und sie wachkitzelte.

Es waren die schönsten, einfachsten, pursten und reichsten Momente, die Mauern sprengen konnten im Gedankenwuseltrusel und die das Tor zum Zaubergarten öffnen konnten. Sie waren Genuss und Geschenk. Fantasie und Glaube. Freiheit. Schweben und Loslassen. Leichtigkeit.

Solange die Liebe und die Sonne ihre Morgen durchflutete, solange ihre Körper unter ihren Händen vor Leidenschaft zitterten, waren alle Sorgen vergessen. Alle Fragen nach der Zukunft.

Doch eines Tages kam die Frage nach der Zukunft. Jaques sollte nach Frankreich zurückgehen. Seine Arbeit war in Berlin getan. Die französischen Truppen zogen ab.

Wenn eines Tages jedoch das Leben Dich mir entreißen würde
Wenn Du sterben oder weit von mir sein solltest –
Es würde alles nicht von Bedeutung sein, wenn du mich liebst.
Und irgendwann wird Gott uns wieder vereinigen. Er vereinigt doch alle, die sich lieben. Nicht wahr?

Diese Zeilen schrieb er in einen Brief. Er gab ihn Maria mit Tränen gefüllten Augen. Ohne ein Wort sagen könnend. Schweigend sahen sie sich an. Ganz still war es, als ob die Welt für einen Augenblick den Atem anhält.

Er nahm ihre linke Hand und streifte ihr einen Ring über den Ringfinger. Ein silberner Ring mit einem grünen, funkelnden Glitzersteinchen. Er sagte: „Grün bedeutet Hoffnung und diese stirbt zuletzt und dieser Ring soll wie unsere Liebe sein. Ohne Ende. Liebe Maria, ich werde dich immer lieben. Wo du auch sein wirst, du bleibst ein Teil von mir. Wie weit entfernt wir auch sein werden, du bist ein Teil von meinem Herzen. Wieviel Zeit auch vergehen mag, ich werde dich immer lieben.“

Er gab ihr einen Kuss, drehte sich um und stieg in den Zug ein.

Maria stand noch gefühlte Stunden unverändert am Bahnsteig. Sah dem Zug nach, der schon ewig weit weg sein musste.

Sie wurde still. Es verging Zeit. Tage, Wochen, Monate. Und doch verging kein einziger Tag, dass sie nicht an Jaques dachte.

Ihre Mutter meinte, das Leben muss weiter gehen. Sie sei nun in dem Alter, wo sie eine Familie gründen musste. Maria war eine gut gebildete und ehrfürchtige, vernünftige Frau geworden, die mit beiden Beinen im Leben stand.

Sie lernte Artur kennen. Er war wohlhabend, gut gestellt in der Gesellschaft und er hielt um ihre Hand an. Artur war schon etwas älter. Das war nicht unüblich in den Jahren nach dem Krieg. Die beiden heirateten und bekamen 2 Kinder. Sie lebten ein gutes Leben, ohne Existenzgründe, in einer schönen, großen Wohnung. Die Kinder konnten eine gute Schule besuchen und wertvolle Bildung genießen. Maria und Artur hatten eine gute Zeit. Jahre später starb Artur. Maria trug ihn zu Grabe, legte eine weiße Rose nieder und verbeugte sich in tiefer Demut und Dankbarkeit. Artur hatte ihr ein gutes Leben geschenkt. Dafür war sie sehr dankbar. Dankbarkeit ist eines der wichtigsten Güter überhaupt.

Und wieder gingen Tage, Wochen und Monate ins Land. Ein Jahr trug sie schwarz. So, wie es gewünscht war.

Als das Jahr verstrichen war, fasste sie einen Entschluss: Sie ging zum Deutschen Roten Kreuz und ließ nach Jaques suchen.

Kein Tag verging, an dem sie nicht an ihn dachte. Den Ring trug sie all die Jahre. Den Brief hatte sie in einem Geheimversteck gesichert, damit Artur ihn nicht finden konnte. Das rote Kleid hing noch immer in ihrem Schrank.

Das Deutsche Rote Kreuz hatte nach einigen Wochen Erfolg bei der Suche. Sie luden Maria zu sich und hatten 2 Nachrichten für sie. Eine gute und eine weniger gute. Sie kannten den Wohnort. Es war Mont Saint-Michel, in der Normandie. Er wohnte in der Petite rue 19, der kleinen Straße 19. Doch Jaques wollte keinen Kontakt mehr zu ihr haben. Das ließ er ausrichten.

Sie nahm den Zettel mit Jaques’ Adresse und ging nach Hause. Sie ging zum Kleiderschrank und holte das rote Kleid heraus, welches sie damals so gern trug, als sie mit Jaques zusammen war. Sie schaute auf ihren Ring, nahm seinen Brief aus der Schatulle und las ihn.

Dann rief sie einen Freund an und bat ihn, sie genau dorthin zu fahren, zu dieser Adresse. Sie stieg in das Auto, fuhr hunderte Kilometer mit Angst im Herzen. Was, wenn sie ihn nicht findet. Wenn er sie nicht erkennt. Wenn er sich nicht mal an sie erinnern kann. Wenn er krank ist. Sie glaubte nicht daran, dass er sie nicht sehen will.

Stunden später kamen sie an. In Mont Saint-Michel, in der Normandie. Der Ort wirkte beinahe wie erfunden, so verwunschen und so träumerisch ragte er auf einer kleinen Halbinsel empor. Bei Flut war er sogar komplett vom Festland abgeschottet. Man trifft sich hier am Fuße des Klosterberges. Vor dem Kloster war ein kleiner Markt aufgebaut gewesen. Ein kleines Café lud mit einem verführerischen Kaffeeduft zum Verweilen ein. Sie waren angekommen. Hier musste er irgendwo wohnen. Maria war müde.

Sie gingen in das Café, um sich einen Kaffee zu bestellen und nach einem Bett oder Pension zu fragen. Am nächsten Morgen würden sie sich auf den Weg machen, um Jaques zu suchen. Heute hatten sie keine Kraft mehr.

Sie ließen sich in dem kleinen Café nieder. Es roch nach frisch gebackenem Brot und Kuchen. Eine Bedienung kam und schaute zu den Gästen. Sie sah Maria an. Maria bat sie, ihnen etwas zu essen zu bringen. Egal was, sie sind müde und haben Hunger nach der langen Reise. Die Bedienung ging in die Küche, brachte ein riesiges Holzbrett mit ihrer Spezialität des Hauses: frisches Brot, Käse und frisch gebackenes Hühnchen vom Bauern um die Ecke. Sie brachte den beiden das Essen, stellte dazu noch einen Cidre auf den Tisch. Sie sah Maria in die Augen und sagte ganz gefasst: „Ich kenne Sie.“ Maria sagte: „Das kann nicht sein. Sie müssen mich verwechseln. Ich war noch nie in Frankreich. Ich komme aus Berlin. Das ist das erste Mal, dass ich hier bin.“

Die Bedienung lief aus dem Café, ohne ein Wort zu Maria und den anderen Gästen zu sagen. Ohne sie noch einmal anzuschauen. Sie rannte über den Platz und rief Jemanden etwas zu. Einige wenige Minuten später kehrte sie zurück. Mit einem Mann im Schlepptau, an der Hand. Den hatte sie hinter sich hergezogen, wie einen kleinen Jungen, der zum Abendbrot kommen soll.

Maria stand auf. Jaques stand vor ihr. Zerzaust um’s Haar, er kam gerade von seinem Hof. Er stand vor Maria, als hätte ihn der Blitz getroffen. Keiner sagte ein Wort. Still zog Jaques seine Brieftasche aus der Hosentasche. Er öffnete sie und zum Vorschein kam Marias Bild, welches sie ihm zum Abschied damals in Berlin geschenkt hatte. Er trug dieses Bild all die Jahre bei sich und jedes Mal, wenn er in dem kleinen Café bezahlte, schaute er auf Maria und erzählte der Bedienung von seiner großen Liebe, die er nie vergessen konnte.

Er hat jeden Tag an sie gedacht.

Maria blieb in Frankreich und schrieb ihren Verwandten und der Familie eine Karte mit den Worten, sie habe geheiratet.

Sie habe Jaques gefunden. Den Mann, dessen Hand sie in Wirklichkeit nie wieder loslassen wird. Den Mann, der sie glücklich macht. In diesem und auch im nächsten Leben. Es ist die Liebe, in der füreinander kämpfen niemals aufhört. Die Liebe, die sie nicht nur als Traum betrachtet hat all die Jahre. Wo sie auch wortlos verstanden wird. Aber wo ihre Worte auch stets gehört werden. Es ist die Liebe, in der man ihre Hand hält, weil losgelassen wurde sie vermutlich viel zu oft.

Sie verbrachten eine wundervolle Zeit. Es war eine andere als damals. Damals war sie 19. Nun war sie 59. Sie waren gereift. Und doch ließen sie sich nie die Lust am Leben und der Liebe nehmen.

15 Jahre später starb Jaques. Maria ging nach Berlin zurück.

Mit über 80 Jahren genießt sie immer noch die französische Küche und die Lebensart. Und sie denkt jeden Tag an Jaques. Den Ring trägt sie immer noch. Mit dem grünen Stein. Denn die Hoffnung stirbt zuletzt.

  • 1933 – Maria ist geboren
  • 1952 – Maria ist 19 Jahre alt und lernt Jaques kennen
  • 1955 – Jaques geht nach Frankreich zurück. Maria lernt Artur kennen und heiratet, Sie bekommen 2 Kinder, Artur stirbt
  • 1992 – nach der Grenzöffnung reiste sie in die Normandie, um Jaques zu suchen, Sie heiraten, verlebten 15 wundervolle Jahre miteinander
  • 2007 – Jaques stirbt, Maria geht nach Berlin zurück