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Anje Heinz

Seelenliebe Blog #8 – Über Lebensschule, Eierlikörfeste und alte Hände

Über Lebensschule, Eierlikörfeste und alte Hände

Was diese hochbetagten, faltigen, erschöpften und knochigen Hände wohl erzählen und verraten?

Ich durfte heute Nachmittag ein wundervolles Lebens-Gespräch führen – ein ganz tiefes, ein sehr berührendes, ein unfassbar liebevolles und inspirierendes Gespräch. Wir sprachen über 73 Jahre Ehe. Wir sprachen über einen großen Mann, der stolze 97 Jahre wurde.

Vor mir thronte eine gütige Frau, seine erste und einzig wahre Liebe, eine richtig zuckersüße Omi. Sie zählt ganze 95 Lenzen und ist glasklar im Kopf. Etwas wackelig hielt sie ihre Notizen in der Hand und ihr Blick war getränkt mit LEBEN. Sie sprach mit so viel Stolz, mit so viel Mut, mit so viel Ehre im Bauch und mit einem Herz voller Respekt und Frieden. Wir plauderten über alle großen Themen des Lebens – über Liebe, Erfolg, Arbeit, Krieg, Frieden, Krankheit, Gesundheit, Glück, Zufriedenheit, Kinder und Familie:

Über die zarten und scheuen Anfänge der Liebe vor über 7 Jahrzehnten. Was das mit der damals 22-jährigen gemacht hat und vor allem, wie sie wuchs und sich wandelte – mit all den Alltagsschlachten, den Herausforderungen, den Erfolgen und Lebensflügen.

Über das schwere, dunkle und nicht enden wollende Trauertal, durch welches sie sich durchkämpften, weil sie bereits die einzige und geliebte Tochter zu Grabe tragen mussten.

Über Geburten und Tode von Herzensmenschen.

Über Schwermut und der tapferen Stirn, die sie dem Krebs geboten haben.

Über Narben im Herzen, weil sie verletzt wurden.

Über tiefe Gefühle und Lachfalten, die sich in manch Lebenssequenz schlichen.

Über Höhenflüge, Himmelsberührungen, Freudenstürme, Hoffnungsschimmer und Mordsgaudi.

Über unbeschwerte, legendäre Eierlikör-Runden und unvergessene Rouladen-Feste.

Über alte Werte, Weisheiten und Prinzipien.

Über schwere Kämpfe, bittere Niederlagen, mutiges Aufstehen und wilde Lebenstaumelfreudentänze.

Übrigens getanzt haben sie bis zum letzten Tag, zusammen im Pflegeheim. Und genau so wollten sie von dieser Welt gehen – zusammen. Hand in Hand. Das haben sie leider nicht geschafft. Mir ist in diesen Momenten ein unglaublich tiefgehendes Zitat aus einem meiner Lieblingsfilme eingefallen:

„Ich bin nichts Besonderes, nur ein gewöhnlicher Mann mit gewöhnlichen Gedanken. Ich habe ein gewöhnliches Leben gelebt. Niemand hat mir ein Denkmal gesetzt und mein Name wird bald vergessen sein. Aber in einer Hinsicht war ich unglaublich erfolgreich: Ich habe einen Menschen mit ganzem Herzen und ganzer Seele geliebt, und das war mir immer genug.“

Wer kennt’s? Worte eines großen Mannes aus „Wie ein einziger Tag“ (Übrigens kann ich den Film nur allein anschauen, weil unter meinem Schluchzen kein anderer ein Wort verstehen würde und man in meinem Meer aus Tränen ertrinken würde). Vielleicht beginne ich die Trauerfeier mit diesen Worten. Ich weiß es noch nicht.

Was ich weiß, ist, dass ich mich unbändig auf das Schreiben der Rede freue. Das wird so tief gehen und es wird eine Hommage. Eine Hommage an einen wundervollen Menschen, an die stärkste Kraft, die wir haben – die Liebe. Es wird eine Hommage an Glaube, Hoffnung und Stärke. Eine Hommage an eine Generation, die mutig nach dem Krieg aufgestanden ist, um für uns, die nachfolgenden Generationen, Wohlstand und Frieden zu erschaffen. Damit wir es eines Tages besser haben, als sie es in den längst vergangenen Tagen der Kindheit und Jugend hatten. Eine Generation, deren Körper alterten und deren Fähigkeiten mit den Jahren nachließen. Allerdings: Der Mensch, der sie innerlich im Herzen und in der Seele waren, ist nie müde geworden. Alter ist eben doch nur eine Zahl. Eine Generation, die sich selbst kaum etwas gegönnt hat, die zufrieden war, als Kind einen Bleistift und Papier in den Händen halten zu dürfen. Da allein hüpfte schon das Herz’l von Gerhard, weil er seiner großen Leidenschaft, dem Malen, nachgehen konnte. Mehr brauchte und gab es nicht. Eine Generation, die keine Mark Startguthaben von den Eltern bekam, kein Bafög und keinen Kredit. Die von ein paar Mark im Monat leben musste und sich dennoch etwas Großes aufbaute.

War ihr Leben leicht? Ohhhh nein. War ihr Leben manchmal ein zäher Tanz mit Not, Entbehrung und Einfachheit? Ganz gewiss. Und dennoch haben sie nie die Lebensfreude und den Optimismus verloren.

Sie haben den Kindern und Enkeln Werte vorgelebt, die heute leider allzu oft vergessen werden. Sie sind durch tiefe und stürmische Ozeane geschwommen, haben hohe Gipfel erstürmt. Sie haben vielleicht nie die Welt wirklich bereist und doch sind ihnen die meisten Dinge gelungen. Sie haben für die Liebe gekämpft, sie geschützt und repariert, haben sich mit Respekt und Demut so manches Leid erspart. Sie wollten sich ein gutes Leben verdienen – durch Ehrlichkeit und Fleiß. Sie haben gekämpft, gelacht, geweint, uns geliebt, geachtet und geschätzt. Sie haben ihre schreiende Herzensbotschaft nach dem ewigen Frieden über Jahrzehnte aufrechterhalten, damit keiner von uns in Not und Elend aufwachsen muss, haben jeden Pfennig dreimal umgedreht, das Brot aufgebacken, wenn es hart wurde, nichts Unnützes gekauft. Sie haben die Dinge repariert, geehrt und geschützt. Was sie nicht hatten, das brauchten sie nicht und was sie hatten, damit waren sie zufrieden. Diese tiefe Zufriedenheit und diese tiefe Demut zu spüren – das hat mich klein werden lassen.

Auf solche Geschichten zu schauen und die Botschaften großer Menschen in die Welt zu tragen, das ist meine Passion und meine Leidenschaft. Dafür arbeite und lebe ich. Weil wir so viel lernen können von unseren Vorfahren und Ahnen. Weil wir so viel dazu beitragen können, deren Gut und Vermächtnis ein wenig weiter zu tragen. Weil wir mehr Zufriedenheit und Dankbarkeit dem Leben gegenüber spüren dürfen.

Und dabei glauben immer noch manche Menschen, ich hätte einen so traurigen Job. Nein: ich habe den dankbarsten Beruf, der mich erdet und mich selbst demütig aufs Leben schauen lässt. Der mich erkennen lässt, was Leben und Liebe wirklich bedeuten. Es ist DIE Berufung, die mir immer wieder die essentiellen Fragen auf dem Lebenstablett serviert, was wirklich wichtig ist im Leben. Was der Sinn des Lebens ist.

Dafür ….

…. für all die Friedenskämpfe, die Lebensgeschichten, die Demuts-Kampfansage, die Zufriedenheitshingabe.
…. für jede sichtbare und unsichtbare Narbe, die die Zeit so hilfreich und fruchtbarer gemacht hat.
…. für ihre innere Herzens-Schönheit und dass sie uns gelehrt habt, wie verzeihen und vorwärtsschreiten geht. Sie haben uns tausend Mal die Hand ausgestreckt, ihre Träume davonfliegen lassen, um uns auch nur eine einzige wimpernschlagartige Sternenstunde zu verschaffen.
…. für ihre Weisheit, die in den Falten schlummert.
…. für jeden Glücks- und Glitzermoment, für jedes Funkelfeuerwerk, all die Lachflashs und wundertollen Nachmittagsversüßungsaktionen.
…. für all die Kuschelbären, Seelentröster-Omis und Erklärbär-Opas.
…. für die Geschichten, die wortlos von den müden Augen erzählt werden.
…. für den Reichtum, den sie mit ihrer Liebe in die Welt geblasen haben.
…. für ihr Leuchtturmstrahlen, mit dem sie uns durch stürmische und ruhige Wellen sicher geleitet haben.
…. für ein Meer unendlicher Geschichten voller Weisheit, Klugheit, Bauernschläue und Seelenfrieden.

…. Dafür ein lautes oder leises DANKE.

Danke für diese zwei Stunden Inspiration, Erdung und Lebensschule.
Herzens-Lebens-Umarmungs-Kuss
Anni